Verfahrensinformation

Umfang der Haftung eines Beförderungsunternehmers nach § 66 Abs. 3 AufenthG


Die Klägerin ist ein in Marokko ansässiges Luftfahrtunternehmen. Sie beförderte im Dezember 2014 einen ivorischen Staatsangehörigen nach Frankfurt am Main. Diesem wurde die Einreise in das Bundesgebiet verweigert. Die Klägerin verbrachte ihn sodann außer Landes.


Mit dem angefochtenen Bescheid forderte die beklagte Bundesrepublik Deutschland von der Klägerin die Erstattung der aus Anlass der Zurückweisung des ivorischen Staatsangehörigen entstandenen Kosten. Widerspruch und Klage hiergegen blieben erfolglos. Der Verwaltungsgerichtshof hat auch die Berufung der Klägerin zurückgewiesen. Die Erstattungsforderung finde ihre Rechtsgrundlage in § 66 Abs. 3 Satz 1 AufenthG. Die tatbestandlichen Voraussetzungen dieser Vorschrift seien erfüllt. Eine Haftungsbeschränkung der Klägerin komme nicht in Betracht. Sie folge namentlich nicht aus Nr. 5.9.1 des Anhangs 9 zum Übereinkommen über die internationale Zivilluftfahrt (Chicagoer Abkommen). Die dort angesprochene Kostentragung durch den Staat für die Verwahrung und Betreuung bestimmter Personen greife nicht zugunsten der Klägerin ein, da die Regelung keine verbindliche Rechtsvorschrift darstelle. Die Höhe der geltend gemachten Kosten sei nicht zu beanstanden.


Mit ihrer vom Verwaltungsgerichtshof zugelassenen Revision verfolgt die Klägerin ihr Begehren weiter.


Pressemitteilung Nr. 6/2024 vom 22.02.2024

Keine Einschränkung der Haftung eines Luftfahrtunternehmens nach § 66 Abs. 3 Satz 1 AufenthG durch einen Standard der Internationalen Zivilluftfahrtorganisation (ICAO)

Die Haftung eines Beförderungsunternehmers für die durch den Aufenthalt und die Rückbeförderung eines Ausländers entstehenden Kosten nach § 66 Abs. 3 Satz 1 AufenthG ist nicht durch einen sogenannten "Standard" der Internationalen Zivilluftfahrtorganisation (ICAO) eingeschränkt, der nicht in deutsches Recht umgesetzt ist. Das hat das Bundesverwaltungsgericht in Leipzig heute entschieden.


Die Klägerin ist ein in Marokko ansässiges Luftfahrtunternehmen. Sie beförderte am 26. Dezember 2014 einen im Besitz eines verfälschten Reisepasses befindlichen ivorischen Staatsangehörigen nach Frankfurt am Main. Den Asylantrag des Ausländers lehnte das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge im sogenannten Flughafenverfahren als offensichtlich unbegründet ab. Daraufhin verweigerte die Bundespolizei ihm die Einreise in das Bundesgebiet. Die Klägerin verbrachte den Ausländer, der auf Rechtsschutz verzichtet hatte, am 9. Januar 2015 außer Landes.


Mit dem angefochtenen Bescheid forderte die beklagte Bundesrepublik von der Klägerin die Erstattung der aus Anlass der Zurückweisung des Ausländers entstandenen Kosten von 814,89 €. Widerspruch und Klage sind erfolglos geblieben. Der Verwaltungsgerichtshof hat auch die Berufung der Klägerin zurückgewiesen. Das Bundesverwaltungsgericht hat diese Entscheidung bestätigt.


Wird ein Ausländer zurückgewiesen, so hat ihn der Beförderungsunternehmer, der ihn an die Grenze befördert hat, unverzüglich außer Landes zu bringen (§ 64 Abs. 1 AufenthG). Der Beförderungsunternehmer haftet nach § 66 Abs. 3 Satz 1 AufenthG neben dem Ausländer für die Kosten der Rückbeförderung des Ausländers und für die Kosten, die von der Ankunft des Ausländers an der Grenzübergangsstelle bis zum Vollzug der Entscheidung über die Einreise entstehen. Die Voraussetzungen dieser Vorschrift sind im vorliegenden Fall erfüllt. Der Standard in Nr. 5.9.1 des Anhangs 9 zum Übereinkommen über die internationale Zivilluftfahrt (Chicagoer Abkommen) vom 7. Dezember 1944 begrenzt die Haftung des Beförderungsunternehmers nicht. Anders als das Chicagoer Abkommen selbst ist der Standard, der unter bestimmten Voraussetzungen eine Kostentragung des Staates für die Unterbringung des Ausländers vorsieht, nicht in deutsches Recht umgesetzt worden und damit kein Bestandteil der innerstaatlichen Rechtsordnung. Der Standard ist auch nicht im Wege der völkerrechtsfreundlichen Auslegung zu berücksichtigen; dem steht der eindeutige Regelungsgehalt des § 66 Abs. 3 Satz 1 AufenthG entgegen. Das Unionsrecht begründet ebenfalls keine Haftungsbeschränkung.


BVerwG 1 C 12.22 - Urteil vom 22. Februar 2024

Vorinstanzen:

VGH Kassel, VGH 5 A 2120/19 - Beschluss vom 02. Juni 2022 -

VG Frankfurt/Main, VG 1 K 1763/16.F - Beschluss vom 18. Juli 2019 -


Urteil vom 22.02.2024 -
BVerwG 1 C 12.22ECLI:DE:BVerwG:2024:220224U1C12.22.0

Umfang der Haftung eines Beförderungsunternehmers nach § 66 Abs. 3 Satz 1 AufenthG

Leitsätze:

1. Ein Beförderungsunternehmer, der nach § 66 Abs. 3 Satz 1 AufenthG für die durch eine Zurückweisung entstandenen Kosten in Anspruch genommen wird, kann hiergegen nicht geltend machen, die Zurückweisung sei rechtswidrig, wenn diese gegenüber dem betroffenen Ausländer bestandskräftig geworden ist.

2. Die Haftung des Beförderungsunternehmers nach § 66 Abs. 3 Satz 1 AufenthG ist nicht durch einen Standard der Internationalen Zivilluftfahrt-Organisation (ICAO) eingeschränkt, der nicht in deutsches Recht umgesetzt ist.

  • Rechtsquellen
    AufenthG § 66 Abs. 3 Satz 1
    Chicagoer Abkommen Art. 37, Nummer 5.9.1 Anhang 9

  • VG Frankfurt am Main - 18.07.2019 - AZ: 1 K 1763/16.F
    VGH Kassel - 02.06.2022 - AZ: 5 A 2120/19

  • Zitiervorschlag

    BVerwG, Urteil vom 22.02.2024 - 1 C 12.22 - [ECLI:DE:BVerwG:2024:220224U1C12.22.0]

Urteil

BVerwG 1 C 12.22

  • VG Frankfurt am Main - 18.07.2019 - AZ: 1 K 1763/16.F
  • VGH Kassel - 02.06.2022 - AZ: 5 A 2120/19

In der Verwaltungsstreitsache hat der 1. Senat des Bundesverwaltungsgerichts
auf die mündliche Verhandlung vom 22. Februar 2024
durch den Vorsitzenden Richter am Bundesverwaltungsgericht Dr. Keller,
die Richter am Bundesverwaltungsgericht Prof. Dr. Fleuß, Dollinger, Böhmann und die Richterin am Bundesverwaltungsgericht Dr. Wittkopp
für Recht erkannt:

  1. Die Revision der Klägerin gegen den Beschluss des Hessischen Verwaltungsgerichtshofs vom 2. Juni 2022 wird zurückgewiesen.
  2. Die Klägerin trägt die Kosten des Revisionsverfahrens.

Gründe

I

1 Die Klägerin ist ein in Marokko ansässiges Luftfahrtunternehmen. Sie beförderte am 26. Dezember 2014 einen ivorischen Staatsangehörigen nach Frankfurt am Main. Der Ausländer, der einen verfälschten ivorischen Reisepass mit sich führte, stellte am Flughafen einen Asylantrag, den das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge mit Bescheid vom 7. Januar 2015 im sogenannten Flughafenverfahren als offensichtlich unbegründet ablehnte. Mit Bescheid vom 7. Januar 2015 verweigerte die Bundespolizei dem Ausländer die Einreise in das Bundesgebiet. Die Klägerin verbrachte den Ausländer, der auf Rechtsbehelfe gegen die genannten Bescheide verzichtet hatte, am 9. Januar 2015 außer Landes.

2 Mit dem angefochtenen Bescheid forderte die Beklagte von der Klägerin die Erstattung der aus Anlass der Zurückweisung des Ausländers entstandenen Kosten von 814,89 €. Widerspruch und Klage sind erfolglos geblieben. Der Verwaltungsgerichtshof hat auch die Berufung der Klägerin zurückgewiesen. Die Erstattungsforderung finde ihre Rechtsgrundlage in § 66 Abs. 3 Satz 1 AufenthG. Die tatbestandlichen Voraussetzungen dieser Vorschrift seien erfüllt. Die geltend gemachten Kosten seien nicht durch atypische Umstände entstanden; eine Haftungsbeschränkung der Klägerin komme daher nicht in Betracht. Die Haftung sei auch nicht durch Nr. 5.9.1 des Anhangs 9 zum Übereinkommen über die internationale Zivilluftfahrt (Chicagoer Abkommen - CA) ausgeschlossen. Die dort angesprochene Kostentragung durch den Staat für die Unterbringung und Betreuung bestimmter Personen greife nicht zugunsten der Klägerin ein, da die Regelung keine verbindliche Rechtsvorschrift darstelle. Die Höhe der geltend gemachten Kosten sei nicht zu beanstanden.

3 Zur Begründung ihrer vom Verwaltungsgerichtshof zugelassenen Revision trägt die Klägerin vor, Anhang 9 des Chicagoer Abkommens müsse bei der Auslegung des § 66 Abs. 3 Satz 1 AufenthG berücksichtigt werden. Das ergebe sich aus Art. 37 und 38 CA sowie aus völkerrechtlichen Vereinbarungen der Europäischen Union. Der Standard in Nr. 5.9.1 des Anhangs 9 des CA stehe ihrer Haftung entgegen, die überdies unverhältnismäßig sei.

4 Die Beklagte verteidigt den angefochtenen Beschluss.

5 Die Vertreterin des Bundesinteresses unterstützt die Rechtsauffassung der Beklagten, namentlich unter Hinweis auf die Genese des § 66 Abs. 3 Satz 1 AufenthG.

II

6 Die zulässige Revision ist nicht begründet. Der Berufungsbeschluss steht mit revisiblem Recht (§ 137 Abs. 1 VwGO) im Einklang.

7 Der angefochtene Bescheid findet, wie der Verwaltungsgerichtshof richtig gesehen hat, seine Rechtsgrundlage in § 66 Abs. 3 Satz 1 AufenthG. Die Voraussetzungen dieser Norm sind erfüllt (1.). Die Haftung der Klägerin ist nicht aufgrund von Vorgaben des Völkerrechts (2.) oder des Unionsrechts (3.) und auch nicht aus Gründen der Verhältnismäßigkeit (4.) eingeschränkt.

8 1. Wird ein Ausländer zurückgewiesen, so hat ihn der Beförderungsunternehmer, der ihn an die Grenze befördert hat, nach § 64 Abs. 1 AufenthG unverzüglich außer Landes zu bringen. Diese Verpflichtung besteht unter den in § 64 Abs. 2 AufenthG bezeichneten Voraussetzungen für die Dauer von drei Jahren fort. In den genannten Fällen haftet der Beförderungsunternehmer nach § 66 Abs. 3 Satz 1 AufenthG neben dem Ausländer für die Kosten der Rückbeförderung des Ausländers und für die Kosten, die von der Ankunft des Ausländers an der Grenzübergangsstelle bis zum Vollzug der Entscheidung über die Einreise entstehen. Der Umfang der Haftung ergibt sich aus § 67 Abs. 2 i. V. m. Abs. 1 AufenthG.

9 a) Die in den genannten Vorschriften bezeichneten Voraussetzungen für eine Haftung der Klägerin liegen vor. Der ivorische Staatsangehörige wurde an der Grenze zurückgewiesen und die Klägerin hat ihn sodann außer Landes verbracht. Die von der Beklagten im Einzelnen geltend gemachten Kostenpositionen sind auf der Grundlage der den Senat nach § 137 Abs. 2 VwGO bindenden tatsächlichen Feststellungen des Berufungsgerichts revisionsrechtlich nicht zu beanstanden.

10 b) Für die Inanspruchnahme des Beförderungsunternehmers ist es grundsätzlich ohne Bedeutung, worauf die Zurückweisung des Ausländers beruht und ob der Unternehmer sie in irgendeiner Weise zu vertreten hat (vgl. BVerwG, Urteil vom 29. Juni 2000 - 1 C 25.99 - BVerwGE 111, 284 <286>). Nach der Rechtsprechung des Senats genügt die bloße Tatsache der Zurückweisung (vgl. BVerwG, Urteil vom 23. November 1999 - 1 C 12.98 - Buchholz 402.240 § 73 AuslG Nr. 1 S. 2; ferner BVerwG, Urteil vom 18. März 2003 - 1 C 9.02 - Buchholz 402.240 § 83 AuslG Nr. 4).

11 c) Offenbleiben kann, ob und gegebenenfalls in welchem Umfang darüber hinaus auch die Rechtmäßigkeit der Zurückweisung Voraussetzung der Haftung des Beförderungsunternehmers ist. Darauf kommt es jedenfalls dann nicht an, wenn auch der betroffene Ausländer selbst eine - vermeintliche - Fehlerhaftigkeit der Zurückweisung wegen deren Bestandskraft nicht mehr geltend machen könnte (vgl. dazu BVerwG, Urteil vom 14. Dezember 2016 - 1 C 11.15 - Buchholz 402.242 § 66 AufenthG Nr. 4 Rn. 27 ff.). Im vorliegenden Fall ist danach die Berücksichtigung einer etwaigen Rechtswidrigkeit der Zurückweisung deswegen ausgeschlossen, weil der Ausländer auf die Einlegung eines Rechtsbehelfs hiergegen ausdrücklich verzichtet hat. § 66 Abs. 3 Satz 1 AufenthG sieht vor, dass der Unternehmer "neben" dem Ausländer für die dort benannten Kosten haftet. Hat sich letzterer eines Rechtsbehelfs gegen die Zurückweisung begeben und damit den Eintritt der Bestandskraft herbeigeführt, kann der Unternehmer nicht besserstehen als der Ausländer selbst. Dies folgt aus der Verschuldensunabhängigkeit und der gesetzlich angeordneten Akzessorietät der Haftung des Unternehmers. Wegen dieser gesetzlichen Verknüpfung ist nicht zwischen der Haftung des Ausländers und derjenigen des Beförderungsunternehmers zu unterscheiden (BVerwG, Urteil vom 16. Oktober 2012 - 10 C 6.12 - BVerwGE 144, 326 Rn. 21); dies gilt auch im Hinblick auf den Umfang der Überprüfung im Rahmen eines Rechtsbehelfs.

12 d) Unabhängig davon ist auf der Grundlage der den Senat nach § 137 Abs. 2 VwGO bindenden tatsächlichen Feststellungen des Berufungsgerichts nicht erkennbar, dass die Zurückweisung des Ausländers rechtswidrig gewesen sein könnte.

13 2. Eine Beschränkung der Haftung der Klägerin folgt nicht aus Nummer 5.9.1 (im Folgenden auch als Standard bezeichnet) des Anhangs 9 zum Übereinkommen über die internationale Zivilluftfahrt (Chicagoer Abkommen - CA). Dabei bedarf keiner Entscheidung, welche der mit dem angefochtenen Bescheid geltend gemachten Kostenpositionen insoweit überhaupt von einer aus dem Standard folgenden Einschränkung betroffen wären.

14 a) Nach Nummer 5.9.1 des Anhangs 9 zum CA trägt der Staat die Kosten der - in einem näher definierten zeitlichen Rahmen entstehenden - Unterbringung und Betreuung insbesondere von Personen, die aufgrund von Problemen mit Dokumenten, die über das Fachwissen des Luftfahrzeugbetreibers hinausgehen, nicht zur Einreise berechtigt sind. Dieser - dem Völkerrecht entstammende - Standard stellt kein revisibles Recht dar, auf dessen Verletzung die Revision nach § 137 Abs. 1 VwGO gestützt werden könnte. Dann müsste der Standard Bestandteil des Bundesrechts (§ 137 Abs. 1 Nr. 1 VwGO) sein. Das ist nicht der Fall.

15 Der Standard ist vom Rat der Internationalen Zivilluftfahrt-Organisation (ICAO) auf der Grundlage von Art. 37 Abs. 2 CA im Jahr 2005 erlassen, aber nicht in nationales Recht umgesetzt worden. Er wird nicht von dem auf das Chicagoer Abkommen bezogenen Umsetzungsgesetz aus dem Jahr 1956 erfasst (Gesetz über den Beitritt der Bundesrepublik Deutschland zu dem Abkommen vom 7. Dezember 1944 über die Internationale Zivilluftfahrt und die Annahme der Vereinbarung vom 7. Dezember 1944 über den Durchflug im Internationalen Fluglinienverkehr vom 7. April 1956, BGBl. II S. 411). Seine Umsetzung in deutsches Recht hat der Senat auch nicht in der von der Revision in Bezug genommenen Entscheidung (BVerwG, Urteil vom 23. November 1999 - 1 C 12.98 - Buchholz 402.240 § 73 AuslG Nr. 1) angenommen. Danach ist lediglich der Standard in Nummer 3.36 des Anhangs 9 zum CA durch § 73 Abs. 1 und 2 AuslG (jetzt § 64 Abs. 1 und 2 AufenthG) umgesetzt worden. Dem lässt sich nicht entnehmen, dass die Umsetzung weitere Standards erfasst hätte. Im Übrigen hat die Bundesrepublik Deutschland nach Mitteilung der Vertreterin des Bundesinteresses in der mündlichen Verhandlung vor dem Senat im Hinblick auf den hier in Rede stehenden Standard eine Abweichung im Sinne des Art. 38 Satz 1 CA angezeigt. Daher bedarf die Frage, welche völkerrechtliche Bindungswirkung den Anhängen zum Chicagoer Abkommen im Allgemeinen beizumessen ist (vgl. hierzu Kaienburg/​Wysk, ZLW 2018, S. 38 ff.), keiner näheren Erörterung.

16 b) Der Standard ist ferner - selbst wenn von einer völkerrechtlichen, durch die Bundesrepublik Deutschland nicht wirksam ausgeschlossenen Bindungswirkung des Standards auszugehen wäre - nicht im Wege einer völkerrechtsfreundlichen Auslegung des § 66 Abs. 3 Satz 1 AufenthG zu berücksichtigen. Dem steht der eindeutige Regelungsgehalt von § 66 Abs. 3 Satz 1 AufenthG entgegen.

17 Das aus dem Grundgesetz abgeleitete Gebot der völkerrechtsfreundlichen Auslegung gilt nicht absolut und ungeachtet der methodischen Grenzen der Gesetzesauslegung. Es verlangt keine schematische Parallelisierung der innerstaatlichen Rechtsordnung mit dem Völkerrecht, sondern eine möglichst vollständige Übernahme der materiellen Wertungen, soweit dies methodisch vertretbar und mit den Vorgaben des Grundgesetzes vereinbar ist. Der Grundsatz der Völkerrechtsfreundlichkeit entfaltet Wirkung nur im Rahmen des demokratischen und rechtsstaatlichen Systems des Grundgesetzes und lässt etwa den Grundsatz der demokratischen Selbstbestimmung unangetastet. Zwar ist grundsätzlich nicht anzunehmen, dass der Gesetzgeber, sofern er dies nicht klar bekundet hat, von völkerrechtlichen Verpflichtungen der Bundesrepublik Deutschland abweichen oder die Verletzung solcher Verpflichtungen ermöglichen will. Eine Auslegung entgegen eindeutig entgegenstehendem Gesetzes- oder Verfassungsrecht ist jedoch methodisch nicht vertretbar, ebenso wenig wie ein Verständnis des Art. 59 Abs. 2 Satz 1 GG, wonach völkerrechtlichen Verträgen zumindest im Regelfall ein Rang über den einfachen Gesetzen zukäme (BVerfG, Beschluss vom 15. Dezember 2015 - 2 BvL 1/12 - BVerfGE 141, 1 Rn. 72 f.).

18 Hieran gemessen kommt das von der Klägerin für richtig gehaltene Verständnis des § 66 Abs. 3 Satz 1 AufenthG nach Maßgabe des Standards in Nummer 5.9.1 des Anhangs 9 zum CA nicht in Betracht. Die Haftungsnorm ist einer derartigen einschränkenden Auslegung nicht zugänglich. Sie sieht nach ihrem Wortlaut eine verschuldensunabhängige Haftung des Beförderungsunternehmers vor, die zu derjenigen des Ausländers akzessorisch ist. Dieses Verständnis entspricht dem - seitens der Vertreterin des Bundesinteresses betonten - Willen des Gesetzgebers, nicht die Allgemeinheit mit den hier in Rede stehenden Kosten zu belasten (BVerwG, Urteil vom 18. März 2003 - 1 C 9.02 - Buchholz 402.240 § 83 AuslG Nr. 4). Das Chicagoer Abkommen selbst steht der Haftung des Luftfahrtunternehmers nicht entgegen, weil es davon ausgeht, dass der Unternehmer die Vorschriften der Bundesrepublik Deutschland, insbesondere über die Einreise und den Aufenthalt von Ausländern, einzuhalten hat. § 66 Abs. 3 Satz 1 AufenthG bedarf auch im Hinblick auf den Verhältnismäßigkeitsgrundsatz keiner Beschränkung auf Rechtsfolgenseite, da die Kosten bei dem Betrieb eines Luftfahrtunternehmens in kalkulierbarem Umfang anfallen und zudem abwälzbar sind (BVerwG, Urteil vom 29. Juni 2000 - 1 C 25.99 - BVerwGE 111, 284 <290>).

19 3. Eine Notwendigkeit, den bezeichneten Standard zugunsten der Klägerin zu berücksichtigen, ergibt sich nicht aus dem Unionsrecht. Die von der Klägerin in Bezug genommenen völkerrechtlichen Vereinbarungen der Europäischen Union gehen nicht von einer innerstaatlichen Verbindlichkeit von Standards in den Anhängen zum Chicagoer Abkommen aus und können schon deswegen die Interpretation des § 66 Abs. 3 Satz 1 AufenthG nicht im Sinne der Revision beeinflussen. Vernünftige Zweifel an diesem Verständnis bestehen nicht, sodass das von der Klägerin angeregte Vorabentscheidungsverfahren nach Art. 267 AEUV nicht in Betracht kommt (vgl. EuGH, Urteil vom 6. Oktober 2021 - C-561/19 [ECLI:​​EU:​​C:​​2021:​​799] - Rn. 39).

20 a) Das gilt zunächst für die Kooperationsvereinbarung zwischen der Europäischen Union und der Internationalen Zivilluftfahrt-Organisation zur Schaffung eines Rahmens für die verstärkte Zusammenarbeit vom 9. September 2011 (ABl. L 232 S. 3). Ihr lassen sich keine Anhaltspunkte für eine innerstaatliche Verbindlichkeit von ICAO-Standards entnehmen. Das wird aus den Allgemeinen Bestimmungen der Vereinbarung deutlich. Danach lässt die Kooperationsvereinbarung die Rechte und Verpflichtungen von EU-Mitgliedstaaten nach dem Chicagoer Abkommen sowie die Beziehungen zwischen der ICAO und den Mitgliedstaaten, die sich aus der ICAO-Mitgliedschaft der Mitgliedstaaten ergibt, unberührt (Nr. 1 Abs. 2). Die Kooperationsvereinbarung erfasst nicht die Verfahren der Entscheidungsfindung der ICAO oder der EU, einschließlich der Normung oder Festlegung von Vorschriften, und ist nicht darauf auszudehnen, sondern legt die regulatorische Zusammenarbeit bei der Vorbereitung solcher Tätigkeiten fest (Nr. 1 Abs. 3). Hinsichtlich der Einhaltung von ICAO-Richtlinien ist allein ein Informationsaustausch vorgesehen (Nummer 4.1. Buchst. d). Dies zeigt, dass die Kooperationsvereinbarung lediglich das Vorfeld der Norm- oder Standardsetzung betrifft, sich aber nicht zur innerstaatlichen Geltung von Standards verhält.

21 b) Letzteres gilt auch für das Europa-Mittelmeer-Luftverkehrsabkommen zwischen der Europäischen Gemeinschaft und ihren Mitgliedstaaten einerseits und dem Königreich Marokko andererseits vom 29. Dezember 2006 (ABl. L 386 S. 57). Art. 1 Nr. 6 Buchst. b dieses Abkommens erwähnt im Rahmen der Begriffsbestimmungen zwar die Anhänge zum Chicagoer Abkommen, lässt aber nicht erkennen, dass hieraus eine Verbindlichkeit in den Mitgliedstaaten folgen soll. Vielmehr enthält die Norm insoweit gerade einen Vorbehalt ("soweit diese Anhänge [...] für [...] den jeweils betroffenen Mitgliedstaat [...] gelten"). Zudem verpflichtet Art. 6 Abs. 1 des Abkommens die Luftfahrtunternehmen, Fluggäste und Besatzungen, beim Einflug in das oder beim Ausflug aus dem Gebiet einer Vertragspartei und während ihres Aufenthalts im Gebiet einer Vertragspartei die dort geltenden Gesetze und sonstigen Vorschriften zu beachten.

22 4. Schließlich folgt eine Haftungsbeschränkung zugunsten der Klägerin nicht aus dem Verhältnismäßigkeitsgrundsatz. § 66 Abs. 3 Satz 1 AufenthG statuiert eine verschuldensunabhängige Haftung des Beförderungsunternehmers, die - wie bereits dargelegt - mit höherrangigem Recht im Einklang steht (vgl. BVerwG, Urteil vom 29. Juni 2000 - 1 C 25.99 - BVerwGE 111, 284 <290>). Sie greift auch dann ein, wenn ein Beförderungsunternehmer alles ihm rechtlich und tatsächlich Zumutbare getan hat, um eine fehlende Einreiseberechtigung des Ausländers zu erkennen. Auch wenn der Beförderungsunternehmer derartige Maßnahmen getroffen haben sollte, führt dies entgegen der Auffassung der Revision nicht dazu, dass seine Haftung der Höhe nach zu beschränken wäre. Denn ein solches Verständnis der Norm würde der Sache nach die Einführung eines Verschuldenselements bewirken, das § 66 Abs. 3 Satz 1 AufenthG gerade nicht enthält. Ein Verschulden findet nach der Konzeption der Haftungsregelung nur zulasten des Unternehmers in den Fällen des § 66 Abs. 3 Satz 2 AufenthG Berücksichtigung. Eine Einschränkung seiner Inanspruchnahme im Einzelfall mag gleichwohl aus Gründen der Verhältnismäßigkeit in außergewöhnlichen Fallkonstellationen nicht von vornherein ausgeschlossen sein (vgl. BVerwG, Urteil vom 29. Juni 2000 - 1 C 25.99 - BVerwGE 111, 285 <290>); nach den Feststellungen des Berufungsgerichts liegt ein derartiger atypischer Fall aber nicht vor.

23 5. Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 2 VwGO.